Kinder und Nachhaltigkeit

Kinder und Nachhaltigkeit

„Wir sind nicht die Ursachen der Probleme, sondern diejenigen, die gebraucht werden, um sie zu lösen. Wir stellen keine Kosten, sondern eine Investition in die Zukunft dar. Wir sind nicht nur junge Menschen, sondern Menschen und Bürger dieser Welt.“

(Botschaft des Weltkindergipfels an die VN-Generalversammlung 2002)

 

I. Kinderbewusstsein

Kinderbewusstsein ist ein politischer Begriff, der die Verantwortung für jetzige und zukünftige Kinder im Handeln erwachsener Menschen hervorheben soll. Ziel ist es, systematisch bei Entscheidungen und Handlungen die Interessen und Bedürfnisse von Kindern mitzudenken.

Nach dem Sprachgebrauch der statistischen Abteilung der Vereinten Nationen (VN) werden bis 14-jährige Menschen als Kinder bezeichnet, 14- bis 24-jährige als Jugendliche – die VN-Kinderrechtskonvention hingegen schließt alle bis 18-jährigen Menschen in ihren Schutz ein.

 

II. Kinder als Nachhaltigkeitsthema und Nachhaltigkeit als Aspekt einer angemessenen  Kinderpolitik

Kinder sind Bürger und Kinder sind die Erwachsenen zukünftiger Gesellschaften. Kinderbewusstsein ist Teil eines angemessenen Verständnisses nachhaltiger Entwicklung, weil diese die Berücksichtigung der Bedürfnisse zukünftiger Generationen einschließt. Der Brundtland-Bericht formuliert: „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Lebensqualität der gegenwärtigen Generation sichert und gleichzeitig zukünftigen Generationen die Wahlmöglichkeit zur Gestaltung ihres Lebens erhält“ (WCED 1987). Es ist somit ein Kernaspekt nachhaltiger Entwicklung, die Bedürfnisse, Interessen und Rechte von Kindern zu berücksichtigen – Investitionen in die Bildung, die Gesundheit und den Schutz von Kindern sind Investitionen in die Zukunft. Nur eine kinderbewusste Gesellschaft ist eine zukunftsfähige Gesellschaft.

 

III. Herausforderungen

Kinder gehören zu den schwächsten sozialen Gruppen, weil sie entwicklungsphysiologisch und -psychologisch am anfälligsten für negative Einflüsse sind, abhängig von der Zuwendung durch Bezugspersonen, und gleichzeitig meist ihren eigenen Bedürfnissen noch kaum Ausdruck verleihen bzw. diese durchsetzen können. Weltweit sind Kinder von einer Reihe sozialer Probleme besonders betroffen. Die deutsche Politik steht vor Problemen wie Kinderarmut, zunehmender sozialer Ungleichheit und deren Auswirkung schon in frühen Kindesjahren, dem Phänomen der ‚sozialen Vererbung‘ von Benachteiligungen von den Eltern an die Kinder und den Folgen des demographischen Wandels, der zum Beispiel zu einem zunehmenden Fachkräftemangel beiträgt.

Aus einer globalen Perspektive stellt das Bundeministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) weitere eklatante Problembereiche heraus: Kindersterblichkeit, mangelnde Mutter-Kind-Gesundheit und mangelnde Bildungschancen. Dazu kommen Herausforderungen wie die Bekämpfung insbesondere schwerer und gefährlicher Kinderarbeit und der Gewalt gegenüber Kindern sowie die Förderung der Registrierung von Geburten vor allem in den so genannten Entwicklungsländern. Eine fehlende Geburtsregistrierung macht Kinder zusätzlich anfällig für Diskriminierung, da sie von der Durchsetzung ihrer Rechtsansprüche oft ausgeschlossen werden.

Nicht zuletzt sind Kinder auch in besonderem Maße durch die Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen und die jetzt schon bestehenden Folgen des menschengemachten Klimawandels betroffen. Es leben insgesamt 600 Mio. Kinder in den zehn am meisten vom Klimawandel betroffenen Ländern, der überwiegende Teil der bereits jetzt auf den Klimawandel zurückführbaren Krankheiten betrifft Kinder unter fünf Jahren.

Das stellt Gesellschaften und Unternehmen vor große Herausforderungen, weil diese Entwicklungen unmittelbar die eigenen Kinder und zukünftige Generationen gefährden. An Nachhaltigkeit orientierte Politiken müssen diesen Herausforderungen begegnen. Dazu bedarf es eines ausgeprägteren Bewusstseins für die Interessen und Bedürfnisse von Kindern.

 

IV. Dimensionen von Kinderbewusstsein

Zur Durchsetzung und zur Schaffung eines öffentlichen Bewusstseins für die Bedürfnisse von heutigen und zukünftigen Kindern bedarf es politischer Intervention, z.B. durch Aufklärungs- und Lobbyarbeit, und entsprechender politischer Plattformen. Diese sollen dabei nicht in Konkurrenz zu bestehenden Institutionen der Kinderrechte und des Kinderschutzes treten, sondern diese ergänzen.

Kinderbewusstsein kann auf drei Ebenen betrachtet werden: der Ebene der Rechtsprechung und Politik, der gesellschaftlichen Ebene und der Ebene des sozialen Umfelds und der zwischenmenschlichen Beziehungen.

 

    V. Ansatzpunkte politischer Intervention zum Thema Kinderbewusstsein

  1. Ebene der Rechtsprechung und Politik

1.1        Schaffung eines unabhängigen parlamentarischen Bundeskinderbeauftragten bzw. einer Kinder-Ombudsperson, um Bewusstsein und Öffentlichkeit für die Bedürfnisse und Interessen von Kindern herzustellen. Die Institution des Kinderbeauftragten soll sich an den „Pariser Prinzipien“ (Principles relating to the Status of National Human Rights Institutions 1993), bestehenden Vorbildern (z.B. Schweden) und an der materiellen und personellen Ausstattung anderer Bundesbeauftragter orientieren. Folgende Rahmenbedingungen sollten dementsprechend geschaffen werden:

1.1.1     Auf gesetzlicher Grundlage durch das Parlament gewählt, substantielle Unabhängigkeit von der Regierung ist gewährleistet

1.1.2     Eigenständige, hauptamtliche Funktion ohne weitere staatliche Mandate

1.1.3     Stellt Umsetzung der VN-Kinderrechtskonvention (KRK) und weiterer relevanter Völkerrechtsdokumente sowie nationaler Gesetzgebung sicher

1.1.4     Hat Einsicht in laufende Gesetzgebungsverfahren, Zugang zu Fachämtern und Ausschüssen

1.1.5     Erstattet Bericht an das Parlament und die Öffentlichkeit

1.1.6     Kann kostenlos angerufen werden, wird tätig auf Eigeninitiative, durch öffentlichen oder privaten Auftrag – auch auf Anrufung von Kindern und in Hinsicht auf Einzelfälle (vgl. Drittes Fakultativprotokoll zur VN-Kinderrechtskonvention, von Deutschland 2013 ratifiziert)

1.1.7     Berücksichtigt in besonderem Maße benachteiligte Kinder, z.B. in bildungsfernen Schichten, Kinder als Angehörige von Minderheiten, Kinder mit Migrationshintergrund, Asyl- und Flüchtlingskinder

1.2        Ausweitung der Anzahl von unabhängigen Landes-, kommunalen und städtischen Kinderbeauftragten, Vernetzung in der Bundesarbeitsgemeinschaft Kommunale Kinderinteressenvertretungen

1.3        Die Strategie des Europarats 2012-2015 „Building a Europe for and with children“ fordert kinderfreundliche Systeme und Leistungen, Ächtung von Gewalt gegen Kinder, Rechtsschutz gefährdeter Kinder und die Förderung der Partizipation von Kindern; die Entwicklung eines Europäischen Ombudsmannes für Kinder steht seit rund 15 Jahren auf der Agenda und sollte von deutscher Seite unterstützt werden.

1.4        Die Europäische Union (EU) thematisiert in der „Agenda für die Rechte des Kindes“ von 2011 u.a. frühkindliche Bildung, eine kindgerechte Justiz, sichere Mediennutzung von Kindern sowie die Inklusion und aktivere Einbeziehung von Kindern mit Behinderungen, benachteiligten Kindern und solchen mit Migrationshintergrund. Die Mitgliedstaaten sind angehalten, ihr Engagement für den Schutz und die Förderung der Kinderrechte in Hinsicht auf die VN-Kinderrechtskonvention und die Grundrechtecharta der EU zu erneuern. Deutschland sollte sich im Rahmen der Europäischen Kommission aktiv an der eingesetzten Offenen Methode der Koordinierung beteiligen und die entsprechenden Strukturfonds nutzen.

1.5        Verfügbarkeit bedarfsorientierter frühkindlicher Bildung besonders für benachteiligte Kinder und Kinder mit Behinderungen politisch sicherstellen, ausreichende Anzahl vor allem öffentlicher qualitätsgesicherter Krippenplätze für Klein- und Kleinstkinder (bis 3 Jahre) schaffen

1.6        Kinder als Rechtssubjekte ins Grundgesetz, Aufnahme von Kinderrechten prüfen – wie 1994 und 2004 durch UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes angemahnt

1.7        Konsequente Gleichstellung von Asyl- und Flüchtlingskindern in Hinsicht auf Bildung, Gesundheitsversorgung und Sozialleistungen

1.8        Umstellen von ‚Elternförderinstrumenten‘ auf ‚Kinderförderinstrumente‘

 

2.    Gesellschaftliche Ebene

2.1        Bildung:

Die PISA-Studie hat gezeigt, dass Bildungserfolg – also das Vorliegen und die Qualität des Abschlusses – nirgendwo so sehr von sozialer Herkunft und dem Vorliegen eines Migrationshintergrunds abhängt, wie in Deutschland (z.B. verdoppelt eine nicht-Deutsche Staatsbürgerschaft die Wahrscheinlichkeit, die Schule abzubrechen und halbiert die Chance, auf ein Gymnasium wechseln zu können).

 

      1. Schwerpunkt frühe Kinderförderung stärken: „alle Maßnahmen innerhalb eines formalen oder non-formalen Rahmens, die die kognitive, soziale, körperliche oder emotionale Entwicklung eines Kindes von der Geburt bis zum Beginn der Grundschule unterstützen. Umfasst sind damit sowohl das Lernen des Kindes als auch Aspekte wie Gesundheit und Ernährung“ (UNESCO 2007: Weltbericht „Bildung für Alle“).
      2. Bedarfsgerechte frühkindliche Förderung und Bildung, bedarfsmäßige Sprachbildung ebenfalls schon im Vorschulalter
      3. Mehr Investitionen in Bildung (Deutschland mit 5,3% des BIP weiterhin unter OECD-Durchschnitt von 6,2%), hinreichend Lehrpersonal und Sozialarbeiter, hinreichende qualitätsgesicherte Fortbildungen der Lehrenden
      4. Förderung von Ganztags-Kitas und Schulen, längerem gemeinsamen Lernen, um sozialen Ungleichheiten des Elternhauses entgegenzuwirken
      5. Im Hinblick auf inklusive Bildung: Bekenntnis zu den materiellen und personellen Implikationen, die die neuen Rechtsansprüche zur Folge haben

Wie und mit welcher Perspektive berichten Medien über Kinder? In den Medien dominieren im Gegensatz zur sozialen Realität klassische Rollenbilder und alte Familienklischees. Über Kinder selbst wird meist auffallend neutral-distanziert berichtet – die Medien weisen weder auf die große Bedeutung von Kindern für die Zukunft alternder Gesellschaften hin, noch machen sie es sich zur Aufgabe, durch positive Berichterstattung zu einem besseren Image von Kindern und Familien in der Gesellschaft beizutragen

 

2.2  Medien

      1. Nicht dramatisierend und stereotyp über kinderreiche Familien und Kinder berichten
      2. Empathische ‚Pro-Kind-Berichterstattung‘, breitere gesellschaftsrelevante Themenaspekte nicht vernachlässigen
      3. Kinder und Familien nicht zum „politischen und medialen Restposten“ machen, das heißt nicht nur problembezogen und am Rande berichten

2.3 Wirtschaft und Unternehmen:

Global Compact, UNICEF und Save the Children haben zehn Grundätze zum Schutz und zur Förderung von Kinderrechten durch Unternehmen aufgestellt – zur Inkorporation von Kinderbewusstsein in Unternehmen sind folgende Grundsätze relevant:

      1. Kinderbewusstsein und Kinderrechte in Unternehmenserklärungen durch höchste Management-Ebene verankern
      2. Analyse der Unternehmenstätigkeit in Hinsicht auf negative Auswirkungen auf Kinder, gegebenenfalls Einleitung von Korrekturmaßnahmen; Selbstverpflichtung zur Förderung der Menschenrechte und Kinderrechte (Engagement, freiwillige Maßnahmen, Partnerschaften, Außenkommunikation); Einrichtung einer Beschwerdestelle im Unternehmen
      3. Aktives Engagement für die Bekämpfung von Kinderarbeit; Schutz und Sicherheit von Kindern sowohl im Unternehmen, als auch in Produkten und Leistungen sicherstellen; nur Marketing und Werbung einsetzen, die Kinder achtet (leichte Manipulierbarkeit beachten, unrealistische und sexualisierende Körperbilder ausschließen, Gewaltfreiheit fördern)
      4. Menschenwürdige Arbeitsplätze und –bedingungen für junge Arbeitnehmer schaffen, Möglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts gewährleisten, die Schaffung (auch materieller) Bedingungen für die Elternschaft von Mitarbeitern unterstützen, Gesundheitsschutz und weitere Förderung familienfreundlicher Arbeitsbedingungen fördern – nicht zuletzt, um die Erwerbstätigkeit aller Elternteile zu ermöglichen
      5. Umweltverschmutzung und Treibhausgase – die für Kinder in besonderem Maße gefährlich sind und die zukünftige Generationen zunehmend betreffen werden – soweit wie möglich vermeiden, ansonsten kompensieren
      6. Potenzielle Vorteile für Unternehmen: Die Berücksichtigung von Kinderbewusstsein kann dazu beitragen, die Reputation des Unternehmens zu stärken, das Risikomanagement zu verbessern und einen breiteren gesellschaftlichen Rückhalt für die Unternehmenstätigkeit zu erzielen. Zusätzliche Motivation der Arbeitskräfte kann durch eine familienfreundliche Unternehmenskultur hergestellt werden. Kinderfreundliche Produkte ermöglichen eine Positionierung des Unternehmens als Innovationsträger und die Erschließung neuer Märkte. Diese Faktoren sind wiederum die Grundlagen für ein stabiles, inklusives und nachhaltiges Geschäftsumfeld.
      7. Ergänzend sollten vor allem für Kinder relevante Unternehmensaspekte für diese verständlich und zugänglich formuliert werden: von Allgemeinen Geschäftsbedingungen bis zu Schutzklauseln und Warnhinweisen.

2.4  Vernetzung der Kinderbeauftragten mit Koordinierungsstellen der Kinderpolitik (u.a. Kinderkommission des Deutschen Bundestags, National Coalition) und bestehenden Institutionen des Kinderschutzes und der Kinderrechte (Deutscher Kinderschutzbund, Deutsches Kinderhilfswerk etc.) und dabei strategische Allianzen für die Durchsetzung von Kinderinteressen bilden

2.5 Beteiligung von Kindern sicherstellen, z.B. über Kinderbeauftragte, Förderung von Kinderparlamenten, Interessenvertretungen auf kommunaler und Landesebene

 

    VI.          Ausblick

Am 20. November 2014 wurde das 25. Jubiläum der Verabschiedung der VN-Kinderrechtskonvention begangen. Darüber hinaus wurden die „Sustainable Development Goals“ (SDGs) verabschiedet, die die Millennium Development Goals (MDGs) ablösen und die Belange von Kindern entscheiden betreffen.

Für eine kinderbewusste Politik bestehen weiterhin viele Herausforderungen: UNICEF hebt als offen gelassene Fragen der MDGs etwa die Thematisierung von Behinderungen bei Kindern und die Berücksichtigung der sich weiter öffnenden Schere zwischen den am besten und am schlechtesten gestellten Menschen weltweit und innerhalb einzelner Länder hervor sowie die Auswirkungen dieser Unterschiede auf das Wohl von Kindern.

Ergänzend zu der Förderung der Partizipation und des ‚Gehörtwerdens‘ von Kindern selbst bedarf es zur Lösung dieser Herausforderungen eines Kinderbewusstseins bei Erwachsenen, die Kinderpolitik direkt beeinflussen können.

Erwachsene in Entscheidungspositionen von Politik, Rechtsprechung und Unternehmen müssen dazu beitragen, dass die Bedürfnisse und Interessen von Kindern berücksichtigt werden.

Kinder haben Rechte. Erwachsene haben Verantwortung für Kinderrechte!